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Neugier - Herausforderung - Erfahrung
deutsch

Elektronischer Rechtsverkehr und Anwaltschaft | Attorneys electronic legal relations

Elektronischer Rechtsverkehr und Anwaltschaft

Vortrag von Rechtsanwalt Helmut Becker
gehalten am 25.09.2003 im Arbeitskreis
Elektronischer Rechtsverkehr und Anwaltschaft
beim 12. Deutschen EDV-Gerichtstag 2003[1]

unwesentlich aktualisiert am 13.03.2021
weil ich denke, dass der Beitrag im Prinzip auch heute genauso aktuell ist
aber deutlich wichtiger als damals

Der moderne RA ist nicht mehr primär Organ der Rechtspflege, sondern Dienstleister für seine Mandanten.

Dienstleister für

            Rechtsberatung

            Justizzugang

Auch die Justiz wird sich mehr auf eine Dienstleisterrolle einstellen müssen, zumindest in den für die Wirtschaft relevanten Bereichen.

Das bedeutet:

Es muss eine pragmatische zeitgemäße Lösung gefunden werden

1. Zwischen den Anforderungen der Justiz als Dritte Gewalt im Staat und als moderner Dienstleister

2. und zwischen den Anforderungen an die Anwaltschaft als Organ dieser so verstandenen Rechtspflege und ihrer eigenen Dienstleisterrolle gegenüber ihren Mandanten.

Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation und deren Einbringung in dieses Spannungsverhältnis ist gleichzeitig Chance und Herausforderung:

Chance zur Bewältigung der Probleme.

Herausforderung an die Gestaltungskraft, der die Rechtspflege tragenden Kräfte.

Zu diesen tragenden Kräften gehört wesentlich auch die Anwaltschaft.


Die Justiz hat den Anwalt bislang primär als ihren eigenen Dienstleister angesehen, der

-       vorfiltriert

-       ordnet

-       und den Sachverhalt definierend vorträgt.

Die Dienstleisterrolle des Anwalts ist aber in erster Linie gegenüber seinem Mandanten wesentlich.

Hier hat sie in einigen Aspekten sogar Verfassungsrang.

Das ist das Fundament der freien Advokatur.

Deshalb darf die Dienstleistung des Anwalts für seinen Mandanten nicht hinter seiner Dienstleistung für die Gerichte zurückstehen.

Das hat insbesondere die Konsequenz, dass der Anwalt so effektiv in die Informationskanäle der Justiz eingebunden werden muss, dass er die Dienstleistungspflicht gegenüber seinem Mandanten optimal erfüllen kann.

Das bedeutet aber auch, dass die daraus sachbezogenen resultierenden Privilegien der Anwaltschaft auch im Informationszeitalter erhalten bleiben müssen.

Und zwar in möglichst effektiver Weise – auch unter Nutzung der gegebenen modernen technischen Möglichkeiten.

Das ist kein Standesdünkel zur Privilegienwahrung, sondern blanke Notwendigkeit.

Notwendig für

-       die Aufgabenerfüllung des Anwalts gegenüber seinen Mandanten

-       das wirtschaftliche Überleben des Anwaltsstandes.

Die deutschen Anwälte stehen seit Jahren unter vermehrtem und auch verschärftem Konkurrenzdruck durch ausländische Anwälte.

Nachdem man erkannt hat, dass es nicht möglich ist, diese Konkurrenz durch formale Vorschriften und Argumente fernzuhalten, muss man sich für diesen Wettbewerb rüsten.

Dazu gehört, dass man sich auch als deutscher Anwalt an den internationalen Informationsflüssen beteiligen muss – zumindest aber die technischen Voraussetzungen dafür schaffen und vorhalten muss.

Die verstärkte und verschärfte Konkurrenzsituation ist kein Spezifikum der Anwaltschaft. Sie betrifft alle Branchen der Wirtschaft und sie wird auch die Justiz betreffen.

Schon in der Vergangenheit sind derartige Konkurrenzlagen zwischen Trägern hoheitlicher Gewalt aufgetreten.

Konkurrenzlagen bei Hoheitsträgern

So zum Beispiel

-       zwischen Deutschem und Europäischem Patentamt (DPMA – EPA)

-       zwischen Deutschem und Europäischem Markenamt (DPMA – HABM[2])

-       zwischen dem Europäischen Markenamt und der WIPO (für die internationale Registrierung von Marken nach dem Madrider Markenabkommen zuständig)

Hier überall haben die Rechtssuchenden Wahlmöglichkeiten, die sie im Sinne der optimalen Verfolgung ihrer Interessen nutzen.

Diese Situation hat die Anwaltschaft in unterschiedlicher Weise betroffen.

Zum einen unterwirft sie die Anwälte bis zu einem gewissen Grad auch dieser Konkurrenzsituation. Wer bei einem der in Konkurrenz stehenden Hoheitsträger nicht auftreten kann (oder will) hat einen deutlichen Nachteil.

Zum anderen muss der Anwalt aber auch die bestehende Konkurrenzlage der Hoheitsträger in seine Überlegungen einbeziehen und seine Mandanten entsprechend beraten. Tut er dies nicht oder tut er es einseitig, hat er dadurch einen Nachteil.

Beispiel Unionsmarke (Gemeinschaftsmarke)

Im Zuge der Schaffung der Rechtsgrundlagen für die europäische Gemeinschaftsmarke[3] (GVM[4] vom 20.12.1993) hat man in den überwiegenden Kreisen der deutschen Anwaltschaft (einschließlich der Patentanwaltschaft) sehr lange gedacht: Das

-       wird nicht kommen,

-       nicht rechtzeitig kommen,

-       keine Bedeutung haben, jedenfalls keine große.

Und das noch zu einem Zeitpunkt als insbesondere belgische Kanzleien schon weltweit Mandate akquiriert haben für die neue europäische Gemeinschaftsmarke[5].

Dieses (Ver)Schlafen hat der deutschen Anwaltschaft erhebliche Marktanteile gekostet.

Das sollte nicht noch einmal passieren.

Mein Beispiel ist für die meisten Anwälte insofern nicht brisant, als sie sich mit diesen Rechtsmaterien nicht befassen.

Europäisierung des Rechts

Heute hört man aber allenthalben von

-       Europäischer Zivilrechtsordnung

-       Europäischem Prozessrecht

-       Europäischem Mahnverfahren

-       Europäischem Strafrecht

Man muss davon ausgehen, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine mächtige Welle der Europäisierung des Rechts über uns hereinbricht.

Dies wird zu ähnlichen Konkurrenzeffekten[6] wie in meinem Beispiel führen und dafür müssen sich Anwaltschaft und Justiz rüsten.

Dabei darf man nicht halbherzig vorgehen, wenn man sich nicht in seiner Existenz gefährden will.

Und dabei ist der deutlich und ausdrücklich formulierte Wille des europäischen Gesetzgebers zu mehr elektronischem Geschäftsverkehr zu berücksichtigen.

Dieser Wille kommt beispielsweise in den Erwägungsgründen der e-commerce-Richtlinie zum Ausdruck. Die Stärkung des elektronischen Geschäftsverkehrs wird dabei insbesondere als Möglichkeit des Zusammenwachsens der EU und ihrer Völker gesehen.

Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die EU in diesem Sektor nicht ein wenig herumstümpert, weil das Thema gerade schick ist. Vielmehr wird hier gewaltiger Druck kommen, der – zumindest mittelbar – auch Anwälte und Gerichte treffen wird.

Mein Eindruck ist, dass dies noch sehr weitläufig unterschätzt wird.

Nach meiner Meinung sind die anstehenden Veränderungen aber so existenziell, dass man wirklich und ernsthaft alle Kräfte bündeln muss, und zwar

-       nicht nur mit Worten und auf dem Papier

-       sondern durch beherzte Taten.

Das bedeutet:

-       Justiz und Anwaltschaft müssen aus gemeinsamem Interesse an einem Strang ziehen. Und nicht in der Verfolgung von jeweiligen Eigeninteressen oder gar aus Kostengründen das Ganze aus dem Blickwinkel verlieren.

Das bedeutet aber auch:

-       Die Industrie, d.h. die Anbieter der für den elektronischen Rechtsverkehr erforderlichen Systeme muss ebenfalls das Ganze in den Blick nehmen.

Insbesondere:

-       Es muss verstärkt an der Interoperabilität der Systeme gearbeitet werden; auch auf europäischer und internationaler Ebene. Das Interesse, möglicherweise eine Monopolstellung zu erlangen, muss hinter dem Interesse eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit der Teilnahmemöglichkeit am e-commerce zu erreichen.


Komfortable Systeme

Im Einzelnen:

Die Systeme müssen komfortabler werden und vor allem offener zu den im elektronischen Geschäfts- und Rechtsverkehr üblichen und anerkannten Anwendungen.

Weizenbaum-Zitat dazu: „Der PC hat noch viel vom Kugelschreiber oder Dosenöffner zu lernen.“ (ct 2003/20, 10)

Dies wird auch geschehen, denn die qualifizierte digitale Signatur wird eine Sackgasse darstellen, wenn das nicht gelingt. Und der elektronische Geschäftsverkehr wird sich ohne die digitale Signatur weiterentwickeln.[7]

Ein Warnsignal gibt es beim EuGH bzw. EuG.

Dort können schon seit längerem Schriftsätze per e-mail eingereicht werden. Sie müssen aber eine eingescannte Unterschrift haben. Digitale Signaturen sind nicht zulässig.

Die jetzigen Systeme werden dabei eine Leitfunktion übernehmen, wenn(!) die Entwickler der künftigen Systeme sie heranziehen.

Deshalb ist es auch schon in der jetzigen Phase wichtig, dass das Berufsattribut RA ausgewertet wird. Sonst besteht die Gefahr, dass die Entwickler künftiger Systeme das für verzichtbar halten.

Fußnote 1

[1] Eingeladen als damaliger Vorsitzender des Ausschusses "Informatik und Kommunikation" der Bundesrechtsanwaltskammer.
Es handelt sich um ein Stichwort-Manuskript; rudimentär aktualisiert am 13.03.2021
Zum damaligen Tagungs-Programm: https://www.edvgt.de/veranstaltungen/deutscher-edv-gerichtstag/edvgt2003/arbeitskreise/elektronischer-rechtsverkehr-und-anwaltschaft/
Zum damaligen Arbietskreis-Protokoll: https://edvgt.de/wp-content/uploads/2016/01/edvgt2003-AK-eRechtsverkehrAnwaltschaft_Prot.pdf

Fußnote 2

[2] Nunmehr EUIPO.

Fußnoten 3 bis 5

[3] Nunmehr „Unionsmarke“.

[4] Nunmehr UVM; Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke.

[5] Nunmehr „Unionsmarke“.

Fußnote 6

[6] Zum Beispiel kann ein unterinstanzliches Gericht den BGH dadurch zu umgehen und seine Rechtsprechung „von hinten durch die Brust ins Auge“ zu ändern versuchen, indem es eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof beschließt.

Fußnote 7

[7] Genau das ist mittlerweile geschehen und wird sich noch weiterentwickeln.